Szenarien für den europäischen Finanzsektor

Autor: Kurt Vogler-Ludwig

Verlag: Studie für die Europäische Kommission, Generaldirektorat für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit

Jahr: 2009

Sprache: Englisch

Strategien für die Personalentwicklung nach der Krise

Die Europäische Kommission hat Economix Research & Consulting (München) beauftragt, langfristige Szenarien für den Fachkräftebedarf im europäischen Finanzsektor zu entwickeln. Angesichts der aktuellen Finanzkrise sollten alternative Entwicklungspfade bis 2020 identifiziert und Konsequenzen für die Personal- und Bildungspolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gezogen werden.

Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit Danielle Kaisergruber Research & Consulting (Paris) und einem Team europäischer Experten erarbeitet. Sie ist Teil einer groß angelegten Untersuchung des zukünftigen Qualifikationsbedarfs in der Europäischen Union, die von der Generaldirektion Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit initiiert wurde.

Ausgangslage

Das Scheitern der Kapitalmarktliberalisierung wird in diesen Tagen großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten offensichtlich. Die Märkte waren nicht in der Lage, sich selbst zu korrigieren – außer durch eine schwere Krise – und dies ist der Punkt an dem wir heute angelangt sind. Der Finanzsektor selbst war außer Stande ein nachhaltiges Geschäftsmodell aufzubauen und die Risiken des Marktes korrekt einzuschätzen. Dies lag in erster Linie in der Verantwortung von Management und staatlicher Regulierung.

Es hing aber auch von den Qualifikationen und Kompetenzen der Belegschaften ab, die ein tiefes Verständnis der Finanzmärkte und ihrer Risiken benötigen. Dies ist der Punkt an diem die künftige Aus- und Weiterbildungspolitik ansetzen muss. Auch wenn die Qualifikation der Beschäftigten im Finanzsektor weit über den Standards anderer Wirtschaftszweige liegt, hat dies die Branche nicht davor bewahrt, die aktuelle weltweite Wirtschaftskrise auszulösen, die im Begriff ist, sich zur tiefsten Depression seit Jahrzehnten zu entwickeln.

Szenarien bis 2020

Die Szenarien für den europäischen Finanzsektor nehmen die strategischen Antworten auf die Herausforderungen der Finanzkrise zum Ausgangspunkt. Drei Alternativen wurden entwickelt:

  • - Szenario 1 – mit dem Titel „Nachhaltiges Finanzwesen“ – nimmt an, dass der Sektor ein völlig neues Geschäftsmodell entwickeln wird, das auf langfristigen Investitionsentscheidungen, Konsumentenvertrauen und hochwertigen Beratungsdienstleistungen beruht. Dies löst einen Kulturschock in der Branche aus, da es die Abkehr von den Gewinnzielen, Standardprodukten und Kontrollmechanismen der Vergangenheit zu Gunsten einer nachhaltigen Geschäftsentwicklung bedeutet.
  • - Szenario 2 – mit dem Titel „Laissez-faire“ – zieht weniger radikale Schlussfolgerungen aus der Krise und nimmt an, dass sich die kurzfristige Gewinnorientierung der Vergangenheit fortsetzen wird. Die öffentliche Kontrolle wird – auch wegen der Schwierigkeiten auf internationaler Ebene – schwach bleiben. Die Standardisierung der Finanzprodukte wird vorangetrieben. Unternehmenszusammenschlüsse werden zunehmen. Die Instabilität der Finanzmärkte wird aber nicht beseitigt.
  • - Szenario 3 – mit dem Titel „Staatseigentum“ – geht davon aus, dass weder die Regierungen noch die großen Unternehmen der Finanzbranche in der Lage sein werden, die Finanzkrise unter Kontrolle zu halten. Die finanziellen und wirtschaftlichen Turbulenzen werden sich zu einer zerstörerischen Welle aufbauen und für lange Zeit einen signifikanten Rückgang der Geschäftstätigkeit bewirken. Dies wird die Finanzdienste in eine administrative Rolle zwingen.

Konsequenzen für die Personalentwicklung

Alle Szenarien werden – zumindest auf die kürzere Frist – erhebliche Beschäftigungsverluste in den Finanzdiensten der Europäischen Union nach sich ziehen. Die spätere Erholung hängt von der Wahl der strategischen Antwort ab. Im Szenario „Nachhaltiges Finanzwesen“ steigt die Beschäftigung kontinuierlich mit dem Ausbau der Beratungs- und Serviceleistungen. Im „Laissez-faire“-Szenario wird insbesondere die Investment-Branche zu einem Auf und Ab in der Beschäftigung führen. Im staatlich geführten Finanzwesen bleibt die Beschäftigung hingegen für lange Zeit auf einem niedrigen Niveau.

Die Szenarien erwarten gemeinsam einen weiter steigenden Qualifikationsbedarf, der allerdings in sehr unterschiedliche Richtungen geht:

  • - Szenario 1 geht von einem neuen Typ von Banker aus, der langfristig statt kurzfristig agiert, der das Vertrauen der Kunden als seine Basis betrachtet und daher eine nachhaltige Geschäftsentwicklung anstrebt. Dies setzt eine grundsätzliche Neuorientierung der Personalentwicklung voraus.
  • - In Szenario 2 setzen sich die Tendenzen der Vergangenheit fort, indem kurzfristige Renditeziele, Flexibilität und Marktorientierung die Leitlinien der Personalentwicklung vorgeben. Die Backoffice-Funktionen verschwinden weitgehend in hoch standardisierten Serviceeinrichtungen.
  • - In Szenario 3 ist die Personalpolitik sicherheits- und kostenorientiert. Sie verlangt weniger nach Marktorientierung als nach guter Verwaltungspraxis.

Empfehlungen

Da die Entstehung der Finanzkrise stark mit der Kompetenzbasis zusammenhängt, empfiehlt die Studie der Beschäftigungspolitik, Ausbildung und Innovationen in den Fokus zu rücken. Aus der umfassenden Liste von Empfehlungen ergeben sich zwei Prioritäten:

  • - Die Ausbildung sollte die Funktionsweise von Kapitalmärkten in den Vordergrund rücken, die nachhaltige Kundenbetreuung, das Controlling und die Risikoeinschätzung. Die Regierungen sollten die Initiative ergreifen, solche Schwerpunkte für die Ausbildung im Finanzwesen zu setzen.
  • - Da die Instrumente der Risikoanalyse im Hinblick auf die langfristigen Risiken versagt haben, sollten F&E-Programme zur Verbesserung der Risikoabschätzung aufgelegt werden. Das Controlling sollte zu einem strategischen Instrument weiterentwickelt werden.

Das Humankapital ist der Schlüssel zur Umstrukturierung des Sektors, und öffentliche Institutionen können den Druck auf den Finanzsektor erhöhen, ein nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Bildung und Ausbildung sind ein Mittel, um auf diesem Weg Fortschritte zu erzielen.

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